Ich geb’s zu: Diese Schreiberei hat was. Es fühlt sich an, als würde ich meinen Kopf ein Stück weit aufräumen. Aber keine Sorge, das wird hier nicht zum Rührstück. Es bleibt mein Chaos, nur eben in Worte gepackt.
Also, zurück zu damals. Ein normaler Schultag, zumindest für meine Verhältnisse. Es lief ab wie immer: Ich kam zu spät, Becs war schon da und winkte mir, als wäre ich der letzte fehlende Part in ihrem bunten Universum. Sie war wie immer zu früh, ich wie immer zu spät. Unser persönlicher Rhythmus.
Die ersten Stunden waren das übliche Programm: irgendwas Langweiliges, das ich sowieso verstand, ohne groß hinzusehen. Ich habe nie wirklich gelernt. Es war einfach … da. Der Stoff, die Antworten, die Lösungen – sie kamen mir zugeflogen, als hätten sie nur darauf gewartet, dass ich sie bemerke. Ich weiß, wie das klingt, aber es ist die Wahrheit. Ich war nie schlecht, aber ich hatte auch keinen Ehrgeiz. Warum auch?
Dann kam die Pause. Ihr wisst schon, dieser Zwang, mit anderen in Gruppen zu stehen, als wäre das der Sinn des Lebens. Für Becs war das die Bühne ihres Tages. Sie redete, lachte, verteilte ihre gute Laune, als wäre sie ein wohltätiger Verein. Und ich? Ich stand daneben, wartete darauf, dass sie genug hatte, und zog mich dann in die Bibliothek zurück. Mein Rückzugsort. Stille, Bücher, Ruhe. Genau das, was ich brauchte, um durch den Tag zu kommen.
Aber dann gab es diese Stunden, die anders waren. Informatik bei Miss Standon.
Miss Standon war … schwer zu beschreiben. Sie hatte diese Art, Dinge zu unterrichten, ohne dass es sich nach Unterricht anfühlte. Es war, als würde sie dich an die Hand nehmen und dich dazu bringen, dir selbst die Antworten zu geben, ohne es zu merken. Ich weiß bis heute nicht, wie sie das gemacht hat.
An diesem Tag war es wieder so. Sie stand vorne, erklärte etwas über Algorithmen und Datenstrukturen, während ich so tat, als würde ich nur halb zuhören. Aber das Ding war: Ich hörte zu. Ich konnte nicht anders. Sie hatte eine Art, die Dinge so zu präsentieren, dass sie hängen blieben, ob man wollte oder nicht.
Es ging um die Macht der Daten. Wie sie genutzt werden, wie sie manipuliert werden können. Sie erzählte von den Möglichkeiten, die Technik bietet, und den Gefahren, die damit einhergehen. Und dann stellte sie diese eine Frage: „Was würdet ihr tun, wenn ihr die Kontrolle über diese Systeme hättet?“
Die Frage blieb in der Luft hängen, und ich wusste, dass sie mich ansah. Es war kein aufdringlicher Blick, nur dieser Moment, in dem du merkst, dass jemand mehr von dir sieht, als du zeigen willst. Ich hab nichts gesagt. Natürlich nicht. Ich hab einfach nur dagesessen, mein Gesicht ausdruckslos, während in meinem Kopf plötzlich alles laut wurde.
Damals hab ich nicht darüber nachgedacht, aber jetzt, wo ich das hier schreibe, wird mir klar, dass sie genau wusste, wo sie mich packen konnte. Informatik war nicht nur irgendein Fach für mich. Es war mein Zuhause. Es war der Ort, an dem ich die Welt verstand, an dem ich Kontrolle hatte, während draußen alles chaotisch und unberechenbar war.
Miss Standon wusste das irgendwie. Sie wusste, dass ihre Worte nicht nur in den Raum gingen, sondern bei mir landeten. Vielleicht hat sie es nicht bewusst gemacht. Vielleicht doch. Aber eines ist sicher: Sie hat mich getroffen, ohne dass ich es damals wirklich begriffen habe.
Auf dem Heimweg dachte ich weiter darüber nach. „Was würdest du tun, wenn du die Kontrolle hättest?“ Es war eine Frage, die mir nicht aus dem Kopf ging, weil ich tief in mir wusste, dass ich sie längst beantworten konnte.
Nur, dass ich es damals noch nicht zugegeben habe.
Diese Frage ließ mich nicht los: „Was würdest du tun, wenn du die Kontrolle hättest?“
Sie nagte an mir, selbst als ich zu Hause war, die Kopfhörer aufhatte und versuchte, den Tag mit lauter Musik wegzublasen. Es funktionierte nicht. Normalerweise konnte ich den Schulalltag abschütteln, sobald ich das Gebäude verlassen hatte. Aber nicht an diesem Tag.
Ich weiß noch, wie ich damals in meinem Zimmer saß und einfach an die Decke gestarrt habe. Die Worte von Miss Standon waren mehr als nur eine Frage gewesen. Sie hatten etwas in mir ausgelöst. Es war nicht das erste Mal, dass ich über Kontrolle nachdachte. Das tat ich immer. Jedes Mal, wenn ich vor meinem Bildschirm saß, wenn ich Systeme analysierte, wenn ich sah, wie alles zusammenhing. Kontrolle war das, was mich ausmachte.
Aber Macht? Das war etwas anderes. Es ging nicht nur darum, Dinge zu verstehen. Es ging darum, sie zu verändern. Zu gestalten. Ich wusste, dass ich das konnte – zumindest in meiner kleinen Welt, dort, wo alles durch Zahlen und Codes regiert wurde. Aber außerhalb? Da war ich mir nicht so sicher.
Ich dachte an die Worte, die Miss Standon über Daten gesagt hatte. Über ihre Macht und die Verantwortung, die damit einherging. Damals hatte ich mir darüber keine Gedanken gemacht. Für mich waren Daten nur Werkzeuge. Mittel, um die Dinge zu sehen, die andere nicht sahen. Ich hatte sie nie als Waffe betrachtet. Nicht wirklich. Aber jetzt? Jetzt fragte ich mich, ob ich das unbewusst immer getan hatte.
Becs hatte in der Stunde gesagt, sie würde ein System schaffen, das alle glücklich macht. Ich hatte sie damals angelächelt, aber es war eines dieser Lächeln, das nichts bedeutete. Denn tief in mir wusste ich, dass ich nicht an Glück glaubte. Ich glaubte an Gerechtigkeit. Und Gerechtigkeit war nicht immer glücklich.
Ich weiß nicht, ob Miss Standon wirklich verstand, was sie in mir ausgelöst hatte. Vielleicht war es Zufall, vielleicht war sie nur eine Lehrerin, die versuchte, ihren Unterricht interessanter zu machen. Aber jetzt, wo ich das alles aufschreibe, bin ich mir nicht mehr so sicher. Vielleicht wusste sie mehr, als ich damals ahnte.
Ich erinnere mich noch, wie ich irgendwann in dieser Nacht meinen Laptop aufgeklappt habe. Ich saß da, das Zimmer dunkel, nur der Bildschirm warf sein kaltes Licht auf meine Hände. Es war eine vertraute Szene. Eine, die sich unzählige Male wiederholt hatte. Aber an diesem Abend fühlte es sich anders an.
Ich hatte immer gedacht, dass ich alles tat, weil ich es konnte. Weil ich es verstand. Aber in diesem Moment fragte ich mich zum ersten Mal, ob ich es tat, weil ich die Kontrolle wollte. Und ob das wirklich so harmlos war, wie ich es mir eingeredet hatte.
Die Frage von Miss Standon ließ mich nicht los. Was würde ich tun, wenn ich die Kontrolle hätte? Die Wahrheit war: Ich hatte sie längst.
Aber ich wusste nicht, ob das ausreichte.
– Tara